Hallo, ist da oben jemand? - Ja, wir sind's: Depression und Essstörung!

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Warnung

Der folgende Inhalt kann für LeserInnen triggernd sein, wenn du also bei den Themen Essstörungen und/oder Depressionen empfindlich bist, dann lies bitte nicht weiter. Auf einige wird es verstörend oder eklig wirken und andere mögen meine Beschreibungen für zu dramatisch halten, allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass hier weder Platz für Augenrollen noch Händewedeln ist.

Neun Jahre später

Ich hatte schon sehr lange vor, ausführlich über meine Erfahrungen mit Depressionen und Essstörungen zu schreiben, allerdings habe ich es lange vor mir hergeschoben, da ich Angst hatte, nicht die richtigen Worte finden zu können. Ich weiß immer noch nicht so wirklich, wo genau mich das Ganze hinführen wird, aber ich glaube gerade jetzt, in solch schwierigen Zeiten, ist es wichtig über unangenehme Themen zu reden, transparent zu sein, meine Tipps zu teilen und zu sagen: Ihr seid mit euren Problemen nicht alleine.

Vor fast sieben Jahren musste ich für drei Monate in eine Jugendpsychatrie, um mich dort behandeln zu lassen, da meine Essstörung einen Punkt erreicht hatte, an dem ich abends hätte einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen können. Vor fast neun Jahren fing der ganze Spaß an. In den nächsten Wochen möchte ich in diesem Fünfteiler über meine Geschichte reden: Die Zeit vor der Klinik, die Zeit in der Klinik, mein Leben nach der Klinik, Langzeitfolgen und mein gesundheitlicher Status heute. Wenn ich auch nur einer Person damit helfen oder wenigstens Aufmerksamkeit erregen kann, dann reicht mir das schon. Manchmal würde ich mir gerne sagen, dass das alles Geschichte und gar nicht mehr Teil meines Lebens ist, aber das wäre gelogen. Wieso also nicht anderen damit helfen?

Noch ein kleiner Hinweis: Alle Aussagen basieren auf meine Sichtweise und auf meinen Erfahrungen. Depressionen und Essstörungen wirken sich traumatisierend auf die Psyche aus, wodurch es natürlich sein kann, dass Menschen in meinem Umfeld bestimmte Geschehnisse anders wahrgenommen oder in Erinnerung haben. Des Weiteren kann es auch gut möglich sein, dass ich mich an manche Sachen gar nicht mehr erinnern kann, weil ich es unbewusst verdrängt habe. Zu guter Letzt: Ich werde keine Namen nennen.

Hallo, ist da oben jemand?

Und plötzlich war ich krank. Aber wieso? Darauf hätte ich auch gerne eine genaue Antwort, doch die habe ich nie bekommen. Ich selbst kann nur raten, wieso ich auf einmal nicht mehr ich war. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, dann fühlt es sich an, als kämen die Erinnerungen aus einem ganz anderen Leben, als wäre das gar nicht ich gewesen, als wäre es ein ganz komischer, verzerrter Film.

Die Depressionen klopften zuerst an meine Tür und mit 12 Jahren wusste ich gar nicht, wer da gerade vor mir stand. Naiv und schutzlos ließ ich dieses Monster in meinen Kopf und dort machte es es sich erstmal gemütlich. Ich habe lange überlegt, ob ich erläutere, was genau diese Wendung in meinem Leben ausgelöst hat, welche Person daran Schuld war, aber am Ende habe ich mich doch dagegen entschieden. Es gibt viele Momente und Menschen in meiner Kindheit und in meiner frühen Jugend, die dazu beigetragen haben, dass ich jetzt ordentlich einen Knacks weg habe. Es hilft niemandem, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, denn schlussendlich hätte alles und Jeder mögliche der Tritt von der Klippe gewesen sein können. Wichtig ist: Mein sich noch entwickelndes Gehirn war zu vielen Situationen ausgesetzt, die zum Absturz geführt haben. Error 404. Mein Kopf dachte sich: Alleine schaffen wir den Quatsch nicht, holen wir uns doch mal zwei Gäste dazu, die uns helfen und ein Ventil für deine Gefühle schaffen. Mein Umfeld hat mir gezeigt, welche Mittel das Ventil unterstützen können und schwupps - da wären wir auch schon wieder bei meinem ersten Gast. Ihr müsst euch das so vorstellen, dass meine beiden Gäste quasi ein Paar waren, der Zweite kam nur ein bisschen verspätet. Der Zweite war keine Folge vom Ersten, sie gehörten wie in einer schlechten Symbiose einfach zusammen. Wenn ich mich bei jemandem neu vorstelle, dann stelle ich mich zuerst mit meinen eigenen, individuellen Eigenschaften vor, mein Partner gehört zwar zu mir, ist aber keine Charaktereigenschaft von mir. Also stelle ich diesen vielleicht erst beim zweiten oder dritten Treffen vor. Und da waren wir nun, die Depressionen, die Essstörung und ich. Mich selbst setze ich hier mit Absicht an letzter Stelle und ich glaube, man kann sich selbst erschließen, wieso.

Das unschlagbare Trio

Zu dritt konnte uns nichts aufhalten, mit ihrer Unterstützung wurde ich zu einer unfassbar guten Lügnerin. Kratzer, tiefe Wunden, nächtliche Schluchzer, exzessiver Sport, alle möglichen Abführmittel, Kotzbeutel und Kotzeskapaden wurden von uns meisterhaft versteckt. Und wenn ihr wüsstet, wo ich überall meine Sachen versteckt oder was ich alles zur Selbstverletzung benutzt habe, dann würde euch selbst auch schlecht werden. Am Anfang wurde ich bewundert dafür, dass ich in so kurzer Zeit so viel abgenomen hatte, aber als ich gar nicht mehr aufhörte Gewicht zu verlieren, wurde aus der Bewunderung Angst, Ekel, Entertainment und Schock. 

Die Depression versteckte sich anfänglich hinter der Aussage: „Vielleicht wird es dir ja helfen.“ Die Essstörung versteckte sich hinter: „Es werden nur ein paar Kilos sein.“
Mir selbst ging es prinzipiell gar nicht um Bewunderung, sondern - wie man mir später in Behandlung mitteilte - wahrscheinlich um Kontrolle. Ich konnte äußere Einflüsse nicht kontrollieren, also musste ich meine Handlungen und meinen Körper kontrollieren. Ich entschied, was ich meinem Körper zu essen und zu trinken gab, ich entschied, wie viel Sport ich trieb, ich entschied, wie viel ich lernte. Und es schien so, als hätte ich die Kontrolle, aber das war eine Zeit, in der ich in meinem ganzen Leben noch nie so wenig Kontrolle hatte. Meine Noten waren an einem Höhepunkt angekommen, aber mein mentaler Zustand an einem Tiefpunkt. Ich konnte an nichts anderes außer Essen und Kalorien und Sport denken. In anderen Worten: Ich konnte an nichts anderes denken, außer daran, meinen Körper zu zerstören.

Freunde und Familie

Manche werden vielleicht schon wissen, dass es nur meine Mama als enges Familienmitglied in meinem Leben gibt. Kein Vater, keine Geschwister, nur Mama und mich. Und was zunächst kommt, richtet sich an Menschen, die eine psychisch kranke Person in ihrem Leben haben.

Es gibt kein Modulhandbuch für solche Geschehnisse im Leben. Niemand sagt einem, wie man dem kranken Kind am besten hilft, jeder weiß es besser, aber keiner hilft. Deine beste Freundin oder dein bester Freund ist krank? Du weißt nicht, was du tun sollst? Das ist in Ordnung. Du bist kein Arzt, du bist nicht qualifiziert dazu, deinem Freund oder deiner Freundin zu helfen. Dein Kind ist krank? Dein eigen Fleisch und Blut löst sich vor deinen Augen in Luft auf? Du weißt nicht, was du tun sollst? Das ist in Ordnung. Auch du bist kein Arzt. Du bist nur ein Elterteil, das dabei zusehen muss, wie sich dein Kind langsam aber sicher dem Tod nähert. Gerade deswegen gibt es ausgebildete Ärzte. Alles was ihr tun könnt, ist nach einem Arzt die Hand auszustrecken.

Psychisch kranke Menschen sind meistens toxisch ohne es zu wollen. Sie stoßen Menschen von sich oder schütten all ihre Gefühle auf den Nächstbesten, der auf sie zukommt ohne überhaupt zu fragen, ob derjenige Platz für so viel mentales Gewicht, für so viel Verantwortung hat. Das Gift verteilt sich und verletzt andere, aber derjenige merkt nicht, was geschieht oder kann es nicht kontrollieren. Niemand weiß, was vor sich geht, niemand weiß, wie man mit der Situation umzugehen hat. Im besten Fall merkt der Kranke oder die Kranke selbst, dass es Zeit für professionelle Hilfe wird. Jeder Mensch funktioniert anders, jedes Psyche funktioniert anders, es ist okay, hilflos zu sein und Fehler zu machen. Es gibt den bekannten Spruch: „Solche Leuten wollen doch nur Aufmerksamkeit haben!“ Ja, das ist genau der Knackpunkt, nur mit Aufmerksamkeit kann man sehen, dass diese Leute Hilfe brauchen. Und es ist okay nach eben dieser zu fragen.

Und hiermit möchte ich mich bei meinen Freunden, die noch da sind oder schon meiner Vergangenheit angehören, und meiner Mama entschuldigen, dass ich ihnen so sehr wehgetan und so viel Angst eingejagt habe.

Tiefpunkt

Im Laufe dieser zwei Jahre von 2012 bis 2014 hatte ich zwei (halbherzige) Selbstmordversuche, einen dreitägigen Klinikbesuch und bereits eine Psychologin, an die ich mich kaum mehr erinnern kann. Mit der Selbstverletzung hatte ich tatsächlich einfach irgendwann aufgehört, weil es mich nervte, dass andere es sehen konnten und es mir keinen Kick mehr gab. Ich sagte mir selbst, dass ich aufhören würde und auf einmal hörte ich auch auf. Ich kann dieses Phänomen wirklich nicht erklären, aber genauso lief es auch bei dem selbst zum Erbrechen bringen. Ich wollte es nicht mehr tun, also hörte ich auf. Aber darauf komme ich in den nächsten Teilen nochmal zurück. Meine Kinderärztin war diejenige, die mich zwangseingewiesen hat, da ich bei einer Körpergröße von 1,65m und 37kg stark untergewichtig war und mit dem Tod quasi schon Händchen gehalten habe. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es dazu kam. 

Eine Cousine von mir kam bei ihrer Mutter, also meiner Tante, zu Besuch, als auch gerade meine Mama und ich dort waren. Sie konnte gar nicht fassen, wie dünn ich geworden war, also forderte sie meine Mama dazu auf, mich noch einmal zum Arzt zu bringen. Nach dem Arztbesuch saß ich mit meiner Mutter beim Bäcker, um zu frühstücken, denn die Ärztin hatte meiner Mutter die Aufgabe gegeben, ab jetzt bis zum Tag der Einweisung zu beobachten, was und wann ich esse. Ich glaube, am liebsten hätte sie mir selbst das Essen die Kehle heruntergezwungen. Es wurde ein Termin für meine Einweisung festgelegt und fünf Tage vor den Sommerferien 2014 ging es los. Meine Klasse schenkte mir Briefe und ein Buch mit witzigen Geschichten, meine LehrerInnen freuten sich für mich und erzählten mir, dass sie erleichtert waren, dass ich diesen Schritt ging. Bis heute wird mir warm um's Herz, wenn ich an die LehrerInnen denke, die sich um mich gesorgt und mir geholfen haben. An dem Tag, an dem ich eingewiesen worden bin, sollte die ewige Kälte aufhören. Es wurde Zeit, ungebetene Gäste herauszuschmeißen.

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