Hallo, ist da oben jemand? - Ungebetene Gäste rausschmeißen

TEIL ZWEI

Warnung

Der folgende Inhalt kann für LeserInnen triggernd sein, wenn du also bei den Themen Essstörungen und/oder Depressionen empfindlich bist, dann lies bitte nicht weiter. Auf einige wird es verstörend oder eklig wirken und andere mögen meine Beschreibungen für zu dramatisch halten, allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass hier weder Platz für Augenrollen noch Händewedeln ist.

Mentaler und physischer Zustand

Am Dienstag den 02.06.2014 trat ich unterernährt und schwach, aber mit viel Motivation meinen ersten Tag in der Jugendpsychiatrie an. Mein derzeitiger Zustand sah folgendermaßen aus: Ich war ein absoluter Kontrollfreak, meine eigenen Handlungen, Emotionen und Gedanken hatte ich aber gar nicht unter Kontrolle. Meine Periode hatte sich lange nicht mehr blicken lassen, auf meinem Kopf fielen die Haare aus, aber auf meinem Körper bildete sich sogenanntes Lanugohaar, welches man normalerweise nur bei Babys finden kann. Meine Haut war kahl, aufgerissen und totmüde, überall hatten sich Druckstellen gebildet, da ich ständig auf meinen eigenen Knochen saß oder lag. Mir war immer kalt und schwindelig und trotzdem konnte ich nicht aufhören, mich zu bewegen. Ich hatte Verlustängste, war eine absolute Perfektionistin und dachte, ich stände ganz alleine in der Welt. Kurz gesagt: Ich war so richtig im Arsch. 

Regeln

Natürlich gab es Regeln, an die man sich halten musste. Hier in einer Liste die Regeln, an die ich mich noch erinnern kann:

- das erste Wochenende wird in der Klinik verbracht
- genauso bei zu viel Zu-/Abnahme oder keiner Gewichtszunahme
- das Badezimmer wird in manchen Fällen nach den Mahlzeiten abgeschlossen
- es erfolgt eine Stunde Ruhezeit nach den Mahlzeiten, diese muss sitzend verbracht werden
- keine Handys bis 16 Uhr
- es gibt geregelte Routinen, Abweichungen werden innerhalb der Therapien abgesprochen
- Patienten essen nach ihrem Stufenplan (1-5)
- man kann sich drei Lebensmittel aussuchen, die man nicht essen will (z.B. Fisch/Fleisch, wenn man vegetarisch isst)

Erste Eindrücke

An meinem ersten Tag war ich, wie bereits erwähnt, sehr motiviert, denn ich hatte in der Schule überhört, wie mich zwei ehemalige Freundinnen 'eklig' genannt hatten und diesen wollte ich beweisen, dass ich gesund werden konnte. Außerdem konnte ich im Sport Unterricht gar nichts mehr leisten, was bei einigen zu Gelächter führte. Ich war bereit, neu anzufangen.
  
Allerdings fühlte sich meine Ankunft so an, als hätte man mich wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen oder als hätte ich einen kalten Entzug gemacht. Ich musste alles abgeben, meine Mama und meine Cousine mussten sich innerhalb von ein paar Minuten von mir verabschieden und schon gab es meine erste richtige Mahlzeit nach zwei Jahren. Fest davon überzeugt, dass ich das Mittagessen schaffen würde, ging ich in das Esszimmer und machte mich daran, als Perfektionistin, eine gute Patientin zu sein. Ich hatte bisher immer nur gute Noten bekommen, warum sollte ich hier also scheitern? - Und, oh boy, hab ich mich überschätzt. Natürlich wurde ich nicht in der vorgegebenen Zeit - dreißig Minuten - mit dem Essen fertig. Wie auch? Normalerweise konnte ich an einem Apfel über eine Stunde sitzen! Hochmut kommt vor dem Fall.
  
Vom Rest des Tages weiß ich nur noch, dass ich auf meinem Zimmer war und gelesen habe. Alles andere ist weg. Ich weiß, dass ich nervös war, viel Zeit versteckt hinter meinem Buch verbrachte, Heimweh hatte und wie eine Irre rauf und runter gelaufen bin, aber das war's auch schon. Das meiste kommt durch meine Tagebucheinträge zurück.

Therapieweisen und ihre Wirkungen

Im Nachhinein wird mir erstmal bewusst, wie viel Therapie ich hatte. Auch dazu habe ich eine Liste angelegt und falls Bedarf besteht, würde ich in einem anderen Post auf jede Therapie eingehen und erzählen, woran ich mich erinnern kann. Mein Fokus hier liegt allerdings auf für mich besonders herausstechende, ausgewählte Formen der Therapie. Hier zuerst die Liste:

- Essenspläne
- Gruppenkochen
- Familienkochen
- persönlicher Betreuer
- Sporttherapie
- Musiktherapie
- Reiten
- Gruppentherapie
- Einzeltherapie
- Familientherapie
- wöchentliche Challenges
- Tagebuch führen 
- Gruppengespräche am Abend
- wöchentliche Ausflüge
- Medikation
- Schule
- Snoezeln (Massage)
- Kunsttherapie
- Montessori-Therapie
- Bandprojekt
- Körpertheraphie

Die Essenspläne sind in Stufen organisiert, man fängt bei Stufe 1 an und wenn man die Klinik verlässt, ist man entweder bei Stufe 4 oder 5, je nach Energiebedarf. Wie ihr oben gelesen habt, muss man das erste Wochenende in der Klinik verbringen und danach hängt es vom Gewicht ab. Ich habe vier Wochenenden in der Klinik verbracht, da ich einfach nicht zugenommen habe. In der Zeit durfte ich Besuch empfangen, aber das Gelände nicht verlassen. Des Weiteren durfte ich irgendwann auch nicht mehr die Station verlassen, da meine Bewegung so weit wie möglich eingeschränkt werden musste. Das war auch der Grund dafür, warum ich schon in kurzer Zeit von Stufe 1 auf Stufe 4 hochgestuft worden bin, mein Körper musste unbedingt Fett anlegen.
Meiner Psyche hat das gar nicht gefallen. Ich verwandelte mich in einen 'Zombie', wie meine Psychologin es nannte. Ich war steif, konnte nicht still sitzen bleiben, konnte nicht schlafen, wachte teilweise jede Nacht schweißgebadet auf und war nur am Zittern. Ich lief mit leerem Blick durch die Flure und konnte an nichts anderes als an Essen denken. Mein Magen musste sich nun an die neuen Portionsgrößen gewöhnen, was dazu führte, dass er konstant aufgebläht und angespannt war. Ihr müsst euch das wie bei einem Kind vorstellen: Kleiner, dünner Körper, großer Bauch.

Jeden Tag mussten wir in ein Tagebuch schreiben, welches wir selbst gestaltet hatten. Abends wurde es abgegeben und am nächsten Tag von unserer Psychologin gelesen. Manchmal standen dann unter den Einträgen Kommentare, Fragen oder Aufgaben. Ich musste beispielsweise aufschreiben, welche Fehler ich gemacht hatte, was gut gelaufen war und ich musste meine Stimmung dokumentieren. Ich muss ganz ehrlich sagen, auf jeder Seite steht immer wieder das Gleiche nur anders formuliert. Natürlich gibt es kleine Abweichungen, aber im Großen und Ganzen ging es in meinen Einträgen nur darum, wie beschissen es mir ging. Ich hab gejammert, gejammert, gejammert. Manchmal versuchte ich um's Essen herumzukommen, indem ich fragte, ob ich eine Zwischenmahlzeit ausfallen lassen könnte, weil es mir ja schon besser ginge, wobei ich einen Tag vorher noch darüber geschrieben hatte, wie sehr ich es hasste zu essen. Logik? Kann ich. 

Was mir beim Lesen meiner Einträge am meisten aufgefallen ist, ist dass ich einfach nur eine Hülle gefüllt mit Angst, Panik und Wut war. Ständig ging es darum, welch große Angst ich vor der Zukunft hatte, dass etwas nicht so klappen würde, wie ich es geplant hatte. An manchen Tagen konnte ich nicht mehr als folgendes schreiben, weil meine Hand zitterte, ich keine Kraft hatte und ich meine Gedanken nicht sortieren konnte:

Tag 14, 17.35 Uhr
Ich habe Angst vor's Abendessen und schreckliches Heimweh.

Tag 16, 18:39 Uhr
Ich kann heute nicht schreiben. Mir geht es jedenfalls nicht gut.


Meine Schrift war unfassbar klein und krickelig, weil ich den Stift kaum halten konnte. Später, als es mir besser ging, wurde mir erklärt, dass mein Körper sich in einer konstanten Starre befand, meine Muskeln waren durchgehend angespannt, was für das Ziel des Zunehmens natürlich nicht sehr praktisch war.

Die Gruppen-, Einzel-, Familien- und Körpertherapie waren jedes Mal besonders anstrengend, da kam man auch eigentlich immer heulend und erschöpft raus. Das waren intensive Stunden, in denen man sich mit wirklich dunklen Seiten seines Lebens und seines Selbst auseinandersetzen musste. Komischerweise weiß ich, dass ich viel geweint habe, aktiv daran erinnern kann ich mich aber nicht. Meine Depression stand hier mittlerweile gar nicht mehr im Vordergrund, aber trotzdem bekam ich verschriebene und streng kontrollierte Antidepressiva, die meine Stimmung im Schacht halten sollten, dazu aber im nächsten Teil mehr.  

Weitere Schwierigkeiten

Generell kann ich mich nur an eine Mahlzeit erinnern, bei der ich das Essen aktiv verweigert habe. Die anwesende Betreuerin hat daraus aber kurzen Prozess gemacht: Entweder ich aß das, was auf dem Teller war oder ich konnte meine Kalorien aus einer Tube trinken (oder zwangsernährt werden). Naja, da war mir selber essen doch lieber.

Des Weiteren kam ich mit den BetreuerInnen nur semi-gut klar. Anfangs weil ich dachte, dass mich jeder hassen würde und am Ende, weil ich dachte, dass ich jeden nerven würde. Wie ihr seht war mein Selbstbewusstsein in Topform. Rückblickend hat mich kein Betreuer und keine Betreuerin gehasst, das waren nur die bösen Stimmen in meinem Kopf, die mir das eingeredet haben.

Darüber hinaus kam es zu vielen Streits in meinem Umfeld, weil ich mich veränderte, angespannt, erschöpft und abgeschottet war. Freundschaften und meine Beziehung zu meiner Mama änderte sich stark. Die Welt außerhalb der Klinik drehte sich weiter, niemand wartete oder konnte auf mich warten und damit hatte ich teilweise sehr zu kämpfen. An den Wochenenden, wenn ich dann nach Hause durfte, war es schwierig sich anzupassen. Ein bisschen wie jetzt während der Corona Pandemie: Ich musste wieder erlernen, wie man mit seinen Mitmenschen richtig umgeht.

Schöne Erinnerungen

Natürlich war nicht alles schlecht. Für mich war es eine schrecklich anstrengende Zeit, aber heute könnte ich nicht dankbarer für meinen Aufenthalt in der Klinik sein. Ohne diese 91 Tage hätte ich nie im Leben den ersten Schritt zur Gesundheit geschafft. Ich habe wundervolle Menschen kennengelernt, es gab unfassbar witzige und emotionale Momente, ich habe neue Lebensenergie bekommen und meine Mama kann nun endlich wieder schlafen. Es ist schwierig, meine Gefühle in Worte zu fassen, weil ich genau weiß, dass ich nicht mehr hier wäre, wenn ich nicht eingewiesen worden wäre. Es ist sehr schmerzhaft zu wissen, dass es eine Zeit gab, in der ich mich und meinen Körper so tiefgründig verabscheute, dass ich lieber gestorben wäre. Ich wünsche keinem das, was ich durchgemacht habe, aber ich weiß heute, dass ich sehr viel über mich gelernt habe. Und obwohl ich vieles verdrängt habe, kann ich mich an Momente erinnern, die ich niemals missen möchte. Aber die Zeit in der Klinik war nur der Anfang des Gesundwerdens. 

Entlassung

Ich würde gerne mehr über meine Entlassung schreiben, aber es gibt vielleicht zehn Minuten, an die ich mich erinnern kann. Ich weiß nicht, wer mich abgeholt hat, ich weiß nicht, wie der Abschied war, ob ich nervös oder aufgeregt war, gar nichts. Komplett weg. In den Wochen davor war ich ein wenig aufgeregt, aber ich erinnere mich, dass ich eigentlich nicht gehen wollte. Zurückkehren bedeutete, dass ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen musste. Aber es wurde Zeit, das Chaos in meinem Kopf aufzuräumen.

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